Osteopathie – Was ist das?
Teil 1 – Grundlagen der Osteopathie
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der US-Amerikaner Andrew Taylor Still das osteopathische Verfahren als eine Möglichkeit, den Körper und das Abwehrsystem zu stärken. Im Gegensatz zum damals üblichen Vorrang des Bekämpfens von Krankheitserregern verfolgte Still einen eher salutogenetischen Ansatz, bei dem die Gesundheit und nicht die Krankheit des Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung steht.
Basierend auf den eigenen Erfahrungen mit der vorherrschenden medizinischen Haltung und seiner eigenen Philosophie gründete Still im Jahr 1874 in Missouri die erste osteopathische Schule. Hier lehrte er nach seinem Grundverständnis und seinen persönlichen Überzeugungen. Das Herzstück der Lehre war die Annahme, dass dem menschlichen System eine Einheit zugrunde liegt und dass viele Krankheiten durch eine strukturelle Störung dieser Einheit entstehen.
Still entwickelte verschiedene manuelle Techniken, um die bestehenden Störungen zunächst diagnostizieren und im weiteren Verlauf behandeln zu können. Dieser Ansatz war damals fundamental anders als die gängige medizinische Praxis, die in erster Linie symptomorientiert war. Stattdessen sah Still in der Prävention von Krankheiten einen wesentlichen Faktor und gestaltete osteopathische Techniken auf dieser Basis.
Wie entwickelte sich die Osteopathie bis zur Gegenwart?
Seit 2012 werden die Behandlungskosten von den meisten gesetzlichen Krankenkassen anteilig übernommen. Bedingung ist eine ärztliche Bescheinigung über die entsprechende Notwendigkeit (formlos). Darüber hinaus muss der behandelnde Therapeut über eine anerkannte berufliche Qualifikation verfügen.
Fokus auf den Selbstheilungskräften des Körpers
Die Philosophie der Osteopathie geht von der Überzeugung aus, dass der Körper des Menschen die Fähigkeit hat, sich prinzipiell selbst zu heilen. Der Patient selbst wird als ein ganzheitliches Wesen verstanden, als ein komplexes System, das mehr ist als lediglich eine Summe von Organen.
Beispiel: Ein Patient stellt sich in unserer Praxis vor. Er hat täglich Kopfschmerzen und weiß nicht mehr, was er noch tun soll. In der Anamnese stellt sich heraus, dass er unter massivem beruflichem Druck steht. Aus diesem Grund findet er auch selten die Gelegenheit zu kochen und bestellt sich das Essen beim Lieferdienst. Zudem ist auch sein Schlaf zunehmend schlechter.
Die körperliche Untersuchung zeigt, dass er nachts mit den Zähnen knirscht und seine Muskeln insgesamt verspannt sind. Es zeigen sich also Faktoren, die aus unterschiedlichen Richtungen auf den Körper wirken. Der berufliche Druck löst Stress aus. Dieser führt zu einer Überreaktion des vegetative Nervensystem, wodurch die Muskeln verspannen und auch die Verdauung schlechter wird. Nachts verarbeitet er den Stress durch Zähneknirschen, wodurch die Muskulatur noch weiter verspannt. Diese Kombination löst eine Kettenreaktion aus, in deren Folge der Nacken des Patienten permanent verspannt ist und er Kopfschmerzen hat. Die nährstoffarme Ernährung sorgt dann noch dafür, dass sein Körper nicht genug Energie bekommt, um sich selber zu helfen.
Damit jeder die eigenen Selbstheilungskräfte aktivieren kann, ist eine Unterstützung durch bestimmte manuelle Techniken hilfreich. Osteopathische Therapeuten arbeiten vor allem mit ihren Händen, indem sie den Körper unter anderem mobilisieren oder auch dehnen. Das damit verbundene Ziel ist wie im obigen Beispiel ein Abbau von Spannung, eine Verbesserung der Durchblutung und daraus resultierend mehr Beweglichkeit für den Patienten. Die Selbstheilungskräfte sind ein natürlicher Prozess. Sie profitieren davon, im Rahmen einer Behandlung aktiviert und unterstützt zu werden, um zunehmend eigenständiger zu funktionieren.
Das osteopathische Vier-Säulen-System
Das zentrale osteopathische Konzept ist das Vier-Säulen-System. Jedes einzelne dieser Systeme steht zu den anderen in Wechselwirkung und hat dabei eine eigene Funktion. Die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems ist die Vorbedingung dafür, dass ein Mensch insgesamt gesund und beschwerdefrei ist und sich wohlfühlt.
1) Parietales System – der Bewegungsapparat
Das parietale System bezieht sich auf den menschlichen Bewegungsapparat. Dazu zählen die Gelenke, Knochen, Sehnen und die Muskulatur. Gerade in diesem Bereich sind vielfältige körperliche Beschwerden bekannt, vor allem Schmerzen und Einschränkungen der Beweglichkeit. Eine funktionierende aufrechte Körperhaltung und auch die Mobilität sind nur möglich, wenn das gesamte parietale System im Einklang ist.
Der therapeutische Ansatz bei einer Behandlung des Bewegungsapparates verwendet verschiedene manuelle Techniken. Sie werden systematisch eingesetzt, um die etwaigen Spannungen im Körper abzubauen und die generelle Beweglichkeit wiederherzustellen. Eine Behandlung des Systems dient der deutlichen Verringerung von akuten Beschwerden und Bewegungseinschränkungen. Auch präventive Maßnahmen kommen zum Einsatz und sorgen dafür, dass zukünftige Probleme nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen.
2) Craniosacrales System – das Nervensystem
Das craniosacrale (cranium = Schädel, Sacrum = Kreuzbein) System bezieht sich auf die Strukturen und die Funktionalität des gesamten Nervensystems. Die Wirbelsäule, die Schädelknochen und auch das Kreuzbein erfüllen hier wichtige Funktionen.
Die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit, die als körpereigener Rhythmus mit zahlreichen Bereichen in Verbindung stehen, darunter der Hormonhaushalt, die Atmung, das Immunsystem und das Nervengefüge sind essentiell.
Manuelle osteopathische Techniken sind besonders behutsamund setzen an Schädelknochen und Wirbelsäule an, mit dem Ziel, Spannungen zu lösen. Durch das Verfahren wird der Fluss von Hirnflüssigkeit und auch Rückenmarksflüssigkeit verbessert. Die so wichtige reguläre Strömung des Liquors lässt sich so wiederherstellen.
Typische Störungen innerhalb des craniosacralen Systems werden häufig in Form von Migräne, Schmerzen im Bereich des Rückens oder auch einer allgemeinen Schwäche des Immunsystems wahrgenommen. Die Behandlung hilft dabei, die zugrunde liegenden Störungen zu regulieren und die Beschwerden entsprechend abzubauen.
3) Viszerales System – die Organe
Das viszerale System umfasst alle inneren Organe, somit die Organe im Bauchraum und Becken, sowie dem Brustkorb. Auch die Lymphbahnen, Faszien und die Blutgefäße gehören dazu. Viele Dysfunktionen, die an den inneren Organen vorkommen, können sich in Form deutlicher körperlicher Beschwerden an anderer Stelle bemerkbar machen. Hier behandelt der Osteopath nicht allein die schmerzende Region, sondern auch die umliegenden Strukturen. Eine Verbesserung der Beweglichkeit der Organe zielt darauf ab, bestehende Schmerzen an anderer Stelle zu verringern und das Wohlbefinden positiv zu beeinflussen.
Hilfsmaßnahmen sind etwa präzise manuelle Manipulationen, die für eine Verbesserung der Durchblutung oder des Lymphflusses sorgen. Auch das Verdauungssystem kann in seiner Funktion optimiert werden. Bei vielen Menschen sorgen alte Vernarbungen für Verklebungen, die zu Schmerzen führen. Hier ist besonders häufig der Bauchraum betroffen. Je umfassender das Gleichgewicht im Körper wiederhergestellt wird, desto besser lassen sich bestehende Beschwerden lindern.
4) Fasziales System – das Bindegewebe
Das fasziale System setzt sich aus dem körpereigenen Bindegewebe zusammen. Dieses umgibt sämtliche Strukturen im Körper und verbindet sie miteinander. Faszien tragen sowohl zur Stabilität bei als auch zur Flexibilität. Sie befinden sich rund um Organe, Muskulatur und Knochen. Stehen Faszien unter Spannung oder sind verklebt, können starke Schmerzen und funktionelle Bewegungseinschränkungen die Folge sein. In der osteopathischen Therapie werden die Faszien gezielt behandelt, insbesondere durch Dehnung und Mobilisierung.
Damit Faszien langfristig möglich geschmeidig bleiben, sind sie auf regelmäßige Bewegung angewiesen. Je weniger Bewegung, desto stärker können Faszien verkleben. Gerade Menschen mit überwiegend sitzenden Tätigkeiten sind häufig davon betroffen. Die Bindegewebsbehandlung steht hierbei in Verbindung mit regelmäßiger eigener Bewegung, beispielsweise durch Sport im Alltag.
Die Einheit von Funktion und Struktur
Nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung achten Osteopathen immer auf die wechselseitige Interaktion zwischen Funktion und Struktur. Beide sind eng miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Finden Veränderungen in einer Gewebestruktur statt oder in einem Organ des Körpers, so wird diese Realität nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer möglichen Auswirkung auf die Funktion.
So kann ein schmerzender und verspannter Muskelbereich dafür sorgen, dass die gesamte Beweglichkeit eines zugehörigen Gelenks eingeschränkt ist. Für die Wiederherstellung der vollständigen Funktionalität des Bewegungsapparates müssen somit beide Aspekte im Sinne einer zusammenhängenden Einheit berücksichtigt werden.
Das Gefäßsystem
Das Gefäßsystem gilt als wesentlicher und integraler Bestandteil des Körpers. Seine primäre Funktion ist das Aufrechterhalten einer funktionierenden Durchblutung und der Sauerstoff- sowie Nährstofftransport zu den Zellen. Die osteopathische Sicht auf die Zirkulation von Blut und Lymphe ist entscheidend zum Verständnis des ganzen Organismus. Eine Störung innerhalb des Gefäßsystems kann sich auf alle anderen Körpersysteme auswirken.
Verschiedene manuelle Techniken stehen für die Behandlung des Gefäßsystems zur Verfügung. Dazu zählt beispielsweise das Lösen von Blockaden zur Optimierung des Blutflusses oder auch eine Unterstützung des gesamten Gefäßsystems durch eine Verbesserung von bestehenden Stauungs- und Verspannungszuständen. Bei der Behandlung geht es immer vorrangig um eine Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Körpers.
In Teil 2 erklären wir, wie eine professionelle osteopatische Behandlung durchgeführt wird.
Sascha Bade
Osteopath D.O., Heilpraktiker, Autor und Keynote-Speaker