Gesundheit

Tiefes Loslassen

Wenn der Körper zu erzählen beginnt

Über das Fühlen, Spüren und Befreien – mit einfachen Übungen zur Unterstützung

Wir alle sprechen vom Loslassen. Von Dingen, Menschen, Erinnerungen oder Gefühlen, die wir hinter uns lassen wollen. Aber tiefes Loslassen passiert nicht im Kopf. Nicht durch Gedanken oder gute Vorsätze. Es geschieht dort, wo sich all die Erfahrungen festgesetzt haben: Im Körper.

Loslassen klingt einfach – doch der Körper weiß mehr

In unseren Muskeln, im Atem, im Bindegewebe, im Herzen – in der Tiefe unserer Zellen. Denn unser Körper vergisst nichts. Er erinnert sich an jede unausgesprochene Angst, an jede unterdrückte Trauer, an jeden Moment, in dem wir uns zusammenziehen mussten, um weiterzumachen.

Manche dieser Erinnerungen tragen wir ein Leben lang – nicht als Worte, sondern als Spannungen, Unruhe, Müdigkeit oder das Gefühl: „Da ist noch etwas, das ich nicht greifen kann.“

Doch genau da beginnt der Weg des Loslassens: Nicht mit Wollen. Sondern mit Hin spüren. Loslassen ist weniger ein Tun als vielmehr ein Zulassen. Ein Anerkennen dessen, was ist – und ein inneres Einverständnis, es nicht mehr festhalten zu müssen.

Spüren heißt: Dem Körper zuhören

Wenn wir aufhören, gegen unseren Körper zu arbeiten, beginnt er zu erzählen. Er zeigt uns, wo etwas eng ist. Wo noch Druck sitzt. Er flüstert, wo Schmerz sich festgehalten hat. Diese Sprache des Körpers ist fein. Sie zeigt sich im Zittern, im Seufzen, in plötzlicher Müdigkeit, in Bildern, die auftauchen. Sie zeigt sich im Bedürfnis nach Berührung oder Rückzug. Und in genau diesen Momenten dürfen wir lernen, nicht zu kontrollieren, sondern zuzulassen.

Das tiefe Loslassen ist ein stiller Prozess. Manchmal passiert es mitten im Alltag: beim Spazierengehen, in einer sanften Yoga-Haltung, im Atem. Der Moment, in dem wir nicht mehr gegen die Empfindung ansteuern, sondern sie willkommen heißen, ist der Moment, in dem die Lösung beginnt. Der Körper sagt: „Jetzt ist es sicher. Jetzt darf das raus.“

Der Körper als Speicher – was unsere Zellen tragen

Unsere Zellen tragen mehr als genetische Information. Sie tragen Geschichte. Unsere eigene, die unserer Familie, manchmal sogar kollektive Erinnerungen. Dieses sogenannte Zellgedächtnis ist kein esoterisches Konzept, sondern ein Phänomen, das viele Menschen erleben, wenn sie tief ins Spüren kommen. Alte Emotionen steigen auf, fühlbar oder intensiv, ohne dass es einen "aktuellen" Grund dafür gibt. Der Körper spricht die Sprache des Erlebens, nicht die der Logik.

Moderne Trauma Forschung – etwa durch Bessel van der Kolk („The Body Keeps the Score“) oder Peter Levine („Sprache ohne Worte“) – bestätigt: Unser Nervensystem speichert Erfahrungen in Form von Reaktionen, nicht in Geschichten. Der Körper erinnert sich über Schutzmechanismen – Flucht, Erstarrung, Übererregung. Und wenn diese Muster nicht gelöst werden, bleiben sie im Gewebe. Sie wirken unter der Oberfläche und beeinflussen unser Verhalten, unsere Beziehungen, unsere Gesundheit.

Warum ist es so wichtig, auf den Körper zu hören – auch für unsere Gesundheit?

Der Körper ist nicht nur Träger von Symptomen – er ist ein hochintelligentes Frühwarnsystem. Wenn wir lernen, seine Sprache zu verstehen, können wir viel früher auf Belastung, Stress oder emotionale Dysbalance reagieren. Chronischer Stress, verdrängte Gefühle oder andauernde Anspannung schwächen auf Dauer nicht nur unsere psychische Stabilität, sondern auch unsere körperliche Gesundheit: Verdauung, Schlaf, Hormonsystem, Immunsystem – all das wird beeinflusst.

Wer regelmäßig in sich hineinspürt, lernt früh zu erkennen: „Hier brauche ich eine Pause.“ Oder: „Hier geht etwas über meine Grenze.“ Dieses Gespür ist wie ein innerer Kompass. Und dieser Kompass schützt uns. Er hilft, nicht über uns hinwegzugehen, sondern in Kontakt zu bleiben – mit uns selbst und mit dem, was uns gesund hält.

Achtsamkeit für den Körper ist deshalb nicht Luxus. Sie ist eine Form von Selbstfürsorge und Prävention. Wer den eigenen Körpersignalen vertraut, lebt gesünder – weil er nicht erst handelt, wenn es weh tut, sondern wenn etwas sich nicht mehr stimmig anfühlt.

Wenn der Körper loslassen will, aber der Kopf nicht kann

Oft erleben wir: Der Körper will weinen, zittern, sich schütteln – doch der Verstand will die Kontrolle behalten. Er sagt: „Das ist jetzt nicht angebracht.“ Oder: „Wenn ich das zulasse, hört es nie mehr auf.“ Aber das Gegenteil ist wahr. Alles, was der Körper ausdrücken darf, wird weicher. Alles, was nicht mehr gehalten werden muss, bringt Energie zurück.

Wenn wir den Körper unterstützen, auf seine Weise loszulassen, geschieht tiefe Heilung. Ohne dass wir alles verstehen müssen. Ohne dass es eine "gute" Geschichte dazu braucht. Es reicht, da zu sein. Mitfühlend. Offen. Und atmend. Ein Weg zu dieser Offenheit kann über somatische Übungen führen – also über Bewegung, Atem, Stimme und Berührung. Auch Klang, Vibration oder bewusste Stille können helfen. Der Körper folgt seiner eigenen Weisheit, wenn er Raum bekommt. Loslassen ist dann nicht mehr etwas, das wir tun – sondern etwas, das wir erlauben.

Einfache Übungen für das tiefe Loslassen

Diese Übungen helfen dir, mit deinem Körper in Kontakt zu treten und ihm sanft den Raum zu geben, sich zu öffnen. Sie sind für jeden zugänglich, brauchen kein Vorwissen und keine Ausrüstung – nur etwas Zeit, Achtsamkeit und einen geschützten Rahmen.

Herz- und Bauchkontakt – die Hände sprechen lassen

Wirkung: beruhigt das Nervensystem, schafft Sicherheit, fördert innere Ruhe.
So geht’s:

  • Lege dich hin oder setze dich bequem.
  • Eine Hand aufs Herz, eine auf den Bauch.
  • Atme bewusst in deine Hände – tief, ruhig, weich.
  • Spüre: Was fühlst du? Wärme, Enge, Weite?
  • Sage innerlich: „Ich bin hier. Ich darf mich sicher fühlen. Ich darf loslassen.“

Tipp: Diese Übung kannst du täglich machen – besonders nach herausfordernden Momenten.

Mikrobewegungen – den Körper weich werden lassen

Wirkung: löst Spannungen, fördert Beweglichkeit, stärkt Körperbewusstsein. So geht’s:

  • Setze oder stelle dich aufrecht hin, schließe die Augen.
  • Beginne mit kleinen Bewegungen: kreise Schultern, Becken oder Hände – intuitiv, ohne Plan.
  • Atme ruhig dabei: lang aus, weich ein.
  • Spüre: Wo entsteht Leichtigkeit? Wo wird es weicher?

Hinweis: Diese Übung ist ideal bei innerer Unruhe oder wenn du lange gesessen hast.

Diese einfachen Impulse helfen dir, deinen Körper als Verbündeten zu erleben.

Fazit: Loslassen ist ein Weg zurück zu dir selbst – und zu mehr Gesundheit

Vielleicht zeigt sich beim Übungsprozess ein Gefühl. Vielleicht kommt Ruhe. Vielleicht passiert scheinbar "nichts". Doch der Körper arbeitet. Immer. Er gibt frei, was jetzt bereit ist zu gehen. Du musst nichts erzwingen. Du darfst einfach zuhören. Denn tiefes Loslassen ist nicht das Ende von etwas – es ist der Beginn von etwas Neuem: Raum. Leichtigkeit. Klarheit. Und echte Verbindung zu dir selbst.

Der Körper weiß, wann er bereit ist. Und wenn du es auch bist, wird der Weg sich zeigen – in kleinen Impulsen. In großer Sanftheit. Und in tiefer Kraft.

Und vor allem: In tiefer Gesundheit – die nicht von außen kommt, sondern aus dem Spüren heraus entsteht.

Gabriele Bauch- Hoffmann
Systemische Körperpsychotherapeutin